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Barbara Linnenbrügger

"Ich möchte stricken lernen", postuliert Melissa, "kannst du mir das beibringen?" "Okay", antworte ich nach kurzem überlegen. Es soll eine Herausforderung für mich werden, die Anleitung im Rahmen meines "selbstgestrickten" Selbsterfahrungsansatzes zu gestalten. Ich habe keine Lust mich mit Melissa, die keinerlei Strickpraxis hat, mit Maschen aufnehmen, Handhaltung der Nadeln und rechte Maschen stricken abzuquälen. Aber ich habe da schon eine Idee ...

In den 1980er Jahren habe ich meine in allen Lebens- und Arbeitslagen praktizierte pädagogisch/spirituelle  Herangehensweise an fast alles, was es so zu lernen und zu üben gibt, entwickelt. Dieser Ansatz ent-wickelte sich im Rahmen feministischer Bildungsarbeit und konkretisierte sich dann im Tennis- und Bogenschießtraining, später wurde diese Praxis eine wesentliche Grundlage meines Lebens, vor allem jeglicher beruflicher Arbeit. Diese Praxis kann ich heute als "roten Faden meines Lebens" erkennen. Warum sollte das nicht auch anwendbar sein, wenn ich Melissa stricken lehren möchte?

Die Seele, der Kern dieser Praxis ist die Annahme, dass alle, die etwas lernen möchten, es in jedem Altern tun können. Das das Leben bunt und vielfältig ist und Kreativität und Eigen-Sinn angefragt sind.
Prämissen für Lernende sind:
- ich muss es wollen, ich möchte es können, ich bin neugierig darauf
- es soll mir Freude bereiten
- es soll mich bereichern
- es soll mir keinesfalls schaden
- die Bereitschaft sich selbst immer wieder neu kennenzulernen, sich auszuprobieren, auch im Ungewöhnlichen, Unüblichen
Lehrende sollen
- Vertrauen in die Lernenden haben, dass sie Eigenkompetenz mitbringen
- sich in ihrem Tun vorrangig am Wohlbefinden, nicht am Problem orientieren
- das zu Vermittelnde können
- um Methoden des Lernens wissen und kreativ damit umgehen
- immer nur eine (Teil-)Aufgabe geben und dann ausprobieren lassen und anschließend gemeinsam auswerten,
  erst dann die nächsten Lernschritte angehen

Aber zurück zum stricken. Ich habe es als Mädchen im Handarbeitsunterricht unter ziemlichen Qualen gelernt. So möchte ich es nicht mit Melissa praktizieren. Ihr würde die Motivation unter Umständen schnell abhanden kommen und mir würde es so keine Freude bereiten.
Als Erstes bekommt sie die Aufgabe im Wollgeschäft Stricknadeln in Stärke 4 und Wolle, die ihr gut gefällt, zu kaufen. Die Wolle sollte gut gezwirnt sein, damit sie beim eventuellen verstricken nicht so zerflust. Die Verkäuferin wird sie da sicherlich gut beraten.
Meine Idee: Am leichtesten stricken sich rechte Maschen. Damit fange ich an.

Andrea, Barbara, Melissa, Bad Elster im April 2022

Melissa übergibt mir zeitnah strahlend eine Tüte mit ihren Eroberungen: Wunderschöne, eisblaue Wolle in guter Qualität und eine Rundstricknadel Stärke 4, die leider etwas lang ist, aber egal, das wird gehen.

Ich nehme (ohne Melissa) 20 Maschen auf und stricke ca. 5 cm nur rechte Maschen, damit sie nicht mit dem wuseligen Maschenaufnehmen und der schwierigen ersten Reihe anfangen muss. So hat sie etwas "Richtiges" in den Händen. Sie muss ja als erstes herausfinden, wie sie die Nadeln und die Wolle hält und die Nadeln und die Wolle zusammen bewegt, sodass etwas auf der Nadel wachsen kann, das zusammenhält. Rechte Maschen sind da wirklich am leichtesten zu handhaben.
Ich zeige Melissa wie ich das Ganze halte und die Finger bewege und lasse sie schnell selber machen. Sie hält die Nadeln gleich ganz anders wie ich und wickelt die Wolle so um die Finger, dass ich denke, so kann es eigentlich nicht gehen. Bin aber zuversichtlich, dass sie das Beste für sich herausfinden wird, durch versuchen und ausprobieren. Zwischendurch lässt sie sich es von mir nochmals zeigen, beobachtet genau und probiert neu. Ich kommentiere kaum, lasse sie machen. Sie ist hochmotiviert, stochert mit den Nadeln in der Wolle herum und schwupps, ist die erste rechte Masche auf der anderen Nadel, weitere folgen. Die Wende klappt nicht so richtig, dann übernehme ich, gebe ihr den Tip die erste Masche nicht zu stricken, sondern nur abzuheben. Sie strickt sehr fest, kommt auf der Rückreihe kaum mit der Nadel unter den Faden. Hauptthema ist die Haltung von Nadeln und Faden. Zufrieden geht sie nach ein paar Reihen. Sie will alleine weitermachen, sich am Tun in Ruhe ausprobieren.

Am nächsten Morgen bekomme ich zum Frühstück die Tüte hingestellt, mit der Bitte, mal wieder zu korrigieren , ein paar Reihen zu stricken. Sie kommt nicht weiter. Melissa ist sichtlich zufrieden mit ihrem Werk! Ein Blick in die Tüte verrät, sie hat in der Tat zwei, drei Reihen hinbekommen, die Wolle ist so verschlungen, dass sie zusammenhält und vor allem mittig sieht es auch nach rechtsgestrickt aus. Super! Und das wichtigste erkenne ich sofort: Keine Masche ist gefallen, sie hat nur vier Maschen mehr auf der Nadel! Ich mühe mich später durch die auf der Nadel sitzende Reihe, sie ist so festgezurrt, dass kaum was geht, habe aber bald drei glatte Reihen gestrickt und auf der Nadel wieder zwanzig Maschen. Am nächsten Tag liegt in der Tüte ein deutlich länger weitergestricktes Stück. In der Mitte sieht es super aus, am Rand, bei den Wenden zeigen sich deutliche Probleme. Melissa verkündet: "Rechte Maschen kann ich und das Halten des Ganzen ist kein Problem mehr! Ich stricke nur fester als du." Das ist ja vollkommen okay, finden wir beide. In der Tat bekomme ich die Korrektur auf das Anfangsmaß leicht hin, nur drei Maschen sind dazugekommen und Maschenabnehmen steht noch nicht als nächster Lernschritt auf dem Plan, sondern die Wenden. Die Kanten des Werkstücks mäandern munter hin und her. Ich zeige ihr nochmals worauf es jetzt ankommt und sie zieht sich bester Laune über das Erreichte und mit Neugier auf den nächsten Lernschritt zurück. Ich bin zuversichtlich, dass sie die Grundlagen des Strickens in kürzester Zeit lernt.

Aber Melissa ist sehr ergeizig, hat hohe Ansprüche an sich. Sie erzählt, dass sie ungeduldig wird, Gefahr läuft, das ganze Projekt in die Ecke zu pfeffern. Verbissen stochert sie in der Wolle herum. Ich frage sie, ob sie das aus anderen Lebenssituationen von sich kennt? Abrupt lässt sie das Strickzeug in ihren Schoß sinken und schaut mich erstaunt an ... und dann lachen wir.

Innerhalb einer Woche strickt Melissa so rechte, wie linke Maschen, kann kleine Muster damit kreieren, die Ränder sind schnurgerade und auch das Abnehmen der Maschen beherrscht sie geschickt. Zum krönenden Abschluss zeige ich Melissa das Aufnehmen von Maschen. Wir lachen viel, auch ihre Zunge kommt bei der ungewohnten Haltung von Nadeln und Wolle hilfreich zum "Einsatz". Wir Menschen sind schon urkomisch in dem verschiedene Körperteile unser Tun vermeindlich unterstützen ... Aber da Melissa ja schon erlebt hat, dass Lernanfänge nicht immer umgehend gelingen, bleibt sie ganz gelassen und zuversichtlich. Vorsorglich hat sie schon einmal eine ganze Tüte mit herrlicher Wolle gekauft, sie wird Geschenke für ihre Familie stricken!